Zum Inhalt springen
Das Magazin mit echter Street-Credibility!

Christian J. Meier – Apeirophobia


Empfohlene Beiträge

Europa im 22. Jahrhundert ist ein Ort der Rückkehr, jedoch nicht zu Humanismus, Aufklärung oder technologischer Freiheit, sondern zur absoluten Vorherrschaft einer allmächtigen Institution: der katholischen Kirche. Weite Teile des Kontinents unterliegen erneut einem theokratischen Regime, das seine Macht auf ein scheinbar göttliches Wunder stützt, die Auferstehung von den Toten. Die Gesellschaft, wie wir sie kennen, existiert nicht mehr. Der Mensch beugt sich schweigend dem „Willen Gottes“, dessen angeblicher Fingerzeig sich bei näherem Hinsehen jedoch als Ergebnis fortgeschrittener Wissenschaft entpuppt. Doch genau dieses Wissen soll geheim bleiben. Der Glaube ist das Fundament der Macht und Zweifel sind gefährlich. In dieser streng hierarchisch und patriarchal organisierten Welt lebt Michaela Berg, eine junge Frau mit ausgeprägter Neugier für die Naturwissenschaften, die in einer Gesellschaft wie der ihren keine Daseinsberechtigung besitzt. Bildung ist ihr als Frau verwehrt, Selbstbestimmung ein Tabu. Ihre Zukunft scheint vorgezeichnet: Heirat, Gehorsam, Dienstbarkeit. Doch in Michaela wächst leiser Widerstand. Hoffnungslosigkeit und der Wunsch nach einem Ausweg begleiten sie, bis eine mysteriöse Nachricht ihr Leben in eine neue Richtung lenkt. Sie begegnet einem Mann, der sie mit einer geheimen Gruppierung in Verbindung bringt – den „Neuen Illuminaten“, einer Untergrundbewegung, die der Wahrheit auf der Spur ist und gegen das religiöse Machtmonopol ankämpft.

Christian J. Meier erschafft mit Apeirophobia eine verstörende Zukunftsvision, die mehr mit unserer Gegenwart gemein hat, als einem zunächst lieb ist. Die Vorstellung, dass sich eine Religion durch wissenschaftliche Manipulation erneut als unantastbare Instanz etablieren könnte, ist beunruhigend – gerade weil sie so plausibel dargestellt wird. Besonders eindrucksvoll gelingt Meier der Einstieg in die Geschichte: Er widmet Michaela und ihrer inneren Zerrissenheit viel Raum, verleiht ihr Tiefe, Glaubwürdigkeit und emotionale Komplexität. Der Stil ist dabei ausgesprochen bildhaft, voller gelungener Metaphern und ausdrucksstarker Sprachbilder. Man liest viele Sätze mehrfach, nicht, weil sie schwer verständlich wären, sondern weil sie in ihrer sprachlichen Qualität zum Innehalten einladen. Thematisch verbindet der Roman klassische Science-Fiction-Elemente mit gesellschaftskritischen Fragestellungen.

Die Technik, die die Wiederauferstehung ermöglicht, wird dabei nicht nur als spekulative Zukunftsvision, sondern als ideologisches Werkzeug eingesetzt, ein Mittel zur Machtsicherung. Die zugrunde liegende Technologie basiert auf quantenphysikalischen Theorien, holografischen Projektionen und künstlicher Intelligenz. Auch wenn nicht alle wissenschaftlichen Konzepte in letzter Tiefe erklärt werden, entsteht doch ein faszinierendes Weltbild. Meier gelingt es, komplexe Ideen so einzubetten, dass sie neugierig machen, ohne zu überfordern. Allerdings gerät die Handlung ab der zweiten Hälfte zunehmend aus dem Gleichgewicht. Der zuvor stringente Erzählfluss wird von häufigen Szenenwechseln und neuen Charakteren durchbrochen, die zwar zur Handlung beitragen, aber selten mit der gleichen Sorgfalt ausgearbeitet sind wie Michaela. Die Spannung, die sich zu Beginn mit kluger Zurückhaltung aufbaut, wird gegen Ende durch überhastete Entwicklungen und teilweise konstruiert wirkende Wendungen ersetzt. Die „Neuen Illuminaten“, deren Einführung zunächst viel verspricht, bleiben seltsam blass und könnten, insbesondere im Hinblick auf ihre Philosophie, Geschichte und Motivation, deutlich tiefgründiger dargestellt sein.

Das Mystische, das sie umgeben soll, verliert schnell an Kraft, da es in wenigen kurzen Dialogen abgehandelt wird. Auch der Antagonist, die Kirche in Person eines vermeintlich übermächtigen Gegenspielers, wird im weiteren Verlauf entzaubert. An sich ein interessanter erzählerischer Kniff, doch leider bleibt seine Rolle zu eindimensional, sein Innenleben zu unausgeleuchtet. Gerade hier hätte der Autor mit einem Perspektivwechsel oder einer stärkeren Auseinandersetzung mit der Gegenseite deutlich mehr Vielschichtigkeit und Spannung erzeugen können. Das Ende schließlich kommt überraschend schnell, beinahe abrupt. Zwar werden lose Fäden zusammengeführt und der Handlungsbogen abgeschlossen, doch es bleibt das Gefühl, dass hier erzählerisches Potenzial verschenkt wurde. Die Fragen, die der Roman aufwirft, etwa nach der moralischen Verantwortung wissenschaftlicher Entdeckungen, der Rolle der Frau in autoritären Systemen oder dem Spannungsverhältnis zwischen Glaube und Erkenntnis, hätten eine umfassendere Behandlung verdient.

Fazit:
Apeirophobia ist ein sprachlich durchaus gelungener, ideenreicher Roman, der besonders in seiner ersten Hälfte mit Tiefe, Atmosphäre und einem bedrückend realistischen Szenario überzeugt. Christian J. Meier zeigt sich als wortgewandter Erzähler, der seine Hauptfigur mit Empathie und Detailfreude zum Leben erweckt. Die zentralen Themen – Unsterblichkeit, Unterdrückung durch Religion, der Wunsch nach Freiheit – werden gut miteinander verwoben. Leider verliert die Geschichte im Verlauf an Fokus, Tempo und erzählerischer Sorgfalt. Einige Figuren bleiben schemenhaft, manche Entwicklungen wirken überhastet oder unnötig konstruiert. Nichtsdestotrotz ist Apeirophobia ein interessantes Werk der deutschsprachigen Science-Fiction, vor allem für Leserinnen und Leser, die sich für philosophische Fragen, gesellschaftliche Machtmechanismen und den Grenzbereich zwischen Wissenschaft und Spiritualität interessieren. Es ist eine Geschichte über das Recht auf Selbstbestimmung, über den Mut zur Wahrheit und über die Angst vor der Unendlichkeit. Frankenstein wäre wohl stolz gewesen, denn in dieser Zukunft ist die Grenze zwischen Schöpfer und Geschöpf endgültig aufgehoben.

Matthias Göbel

Autor: Christian J. Meier
Taschenbuch: 240 Seiten
Verlag: Hirnkost Verlag
Veröffentlichung: 01.09.2024
ISBN: 9783988571113
 

apeirophobia-paperback-christian-j-meier.webp

Bearbeitet von einz1975
Link zu diesem Kommentar
Auf anderen Seiten teilen

Bitte melde Dich an, um einen Kommentar zu hinterlassen

Du kannst nach der Anmeldung einen Kommentar hinterlassen



Jetzt anmelden
  • Bilder

×
×
  • Neu erstellen...

Wichtige Information

Diese Seite verwendet Cookies um Funktionalität zu bieten und um generell zu funktionieren. Wir haben Cookies auf Deinem Gerät platziert. Das hilft uns diese Webseite zu verbessern. Du kannst die Cookie-Einstellungen anpassen, andernfalls gehen wir davon aus, dass Du damit einverstanden bist, weiterzumachen. Datenschutzerklärung Beim Abensden von Formularen für Kontakt, Kommentare, Beiträge usw. werden die Daten dem Zweck des Formulars nach erhoben und verarbeitet.