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...der Grund den man braucht

Aiki Mira – Proxi. Eine Endzeit-Utopie


einz1975

Empfohlene Beiträge

In einer Zeit, in der viele den Wunsch verspüren, der realen Welt zu entkommen, erscheint Aiki Miras Roman Proxi wie eine logische Konsequenz technologischer Fantasiewelten. Während virtuelle Realitäten heute noch in ihren Kinderschuhen stecken, sind sie in Miras Zukunftsvision längst zur Ersatzrealität avanciert. Die Menschen leben nicht mehr nur mit der Technik – sie leben in ihr. Eine dieser digitalen Zufluchten ist Proxi – eine Welt, die mehr bietet als das zerfallene Draußen. Für Monae und Kawi ist Proxi der einzige Ort, an dem sie sich selbst sein können, jenseits gesellschaftlicher Normen und physischer Grenzen. Doch als Proxi plötzlich zusammenbricht, bricht für viele auch die Lebensgrundlage weg. Gemeinsam mit Dion, einer KI in einem biosynthetischen Körper, machen sich Monae und Kawi auf die Suche nach einem Backup, um die verlorene Welt wiederherzustellen. Ihre Reise führt sie durch eine ausgedörrte, verlassene Erde, eine Welt, die ihnen fremd geworden ist und die sie doch als letzte Hoffnung begreifen müssen.

Stilistisch ist der Roman ein Experiment und dieses verlangt Leser*innen einiges ab. Aiki Mira verzichtet weitgehend auf klassische Satzstrukturen und arbeitet stattdessen mit Fragmenten, Neologismen und eigenwilligen Begrifflichkeiten. Der Einstieg ist entsprechend sperrig. Viele Sätze wirken elliptisch, manche fast entrückt, doch wer sich auf den ungewöhnlichen Stil einlässt, wird mit atmosphärischer Dichte und eindrucksvollen Sprachbildern belohnt. Der Roadtrip, den die drei Protagonist*innen antreten, mag zunächst vertraut erscheinen: eine Mission, ein Ziel, die Abenteuer am Wegesrand. Doch Proxi funktioniert auf mehreren Ebenen. Während sich die äußere Handlung entfaltet, enthüllt der Text nach und nach, was mit der realen Welt geschehen ist, warum Wasser zur Rarität wurde, wie Plastikstürme und Sandmeere entstanden und welche Rolle der Mensch in dieser dystopischen Verwandlung spielt.

Neben den ökologischen Aspekten steht vor allem die Frage nach Identität im Zentrum. Mira lässt eine vielfältige Besetzung zu Wort kommen: trans*, nicht-binär, süchtig, verletzt, aber suchend – nach einem Ort, an dem Individualität gelebt werden kann. Es sind keine Held*innen im klassischen Sinn, sondern Suchende in einer Welt, die kaum noch etwas zurückgibt. Die Welt selbst ist bizarr, faszinierend und bedrückend zugleich. Zwischen Sandstürmen, mutierten Vögeln, veränderten Menschen und biomechanischen Existenzen – Biosyntheten, die mehr sind als bloße Maschinen, entfaltet sich ein Setting, das entfernt an Blade Runner erinnert. Doch Mira kopiert nicht, sondern denkt weiter: Die Technologie ist nicht mehr nur dystopisches Werkzeug, sondern trägt auch die Sehnsucht nach einem Neuanfang in sich.

Die KI Dion wird dabei zur tragenden Figur, als Brücke zwischen den Welten, zwischen Menschlichem und Maschinellem, zwischen Wirklichkeit und Simulation. Trotz all dieser spannenden Ansätze konnte mich der Text über weite Strecken nicht wirklich mitreißen. Der avantgardistische Sprachstil wirkt streckenweise erzwungen und hemmt den Lesefluss deutlich. Die Dialoge bestehen oft aus Satzfetzen, und nicht immer gelingt es, zwischen Poesie und Unverständlichkeit die Balance zu halten. Zwar entstehen vereinzelt starke Bilder und eindrückliche Szenen, doch die erzählerische Kohärenz bleibt auf der Strecke. Der Plot ist durchaus solide, wenn auch nicht neu, aber das fragmentierte Erzählgerüst verhindert, dass er wirklich zur Geltung kommt.

Fazit:
"Proxi. Eine Endzeit-Utopie" ist eine Herausforderung, stilistisch wie inhaltlich. Wer sich auf das sprachliche Experiment einlässt, kann faszinierende Ideen und überraschende Perspektiven entdecken. Die dystopische Welt, in der Menschen ihre Identität in virtuellen Räumen neu erfinden, ist erschreckend plausibel und zugleich voller metaphorischer Tiefe. Doch der Zugang ist schwer, der Text fordernd. Für einen gemütlichen Leseabend ist dieser Roman nicht geeignet, eher für Leser*innen, die sich bewusst auf Unkonventionelles einlassen wollen und Freude daran haben, sich durch anspruchsvolle Sprachstrukturen zu kämpfen. Wer durchhält, wird mit originellen Gedanken und einer klugen Vision belohnt, wer auf halber Strecke aufgibt, wird sich dennoch nicht allzu viel entgehen lassen.

Matthias Göbel

Autorin: Aiki Mira
Broschur: 336 Seiten
Veröffentlichung: 25.09.2024
Verlag: FISCHER Tor Verlag
ISBN: 9783596709786

 

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