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...die Krankheit ohne Heilung

Alastair Reynolds – Das Schiff der flüsternden Träume


einz1975

Empfohlene Beiträge

Schiffsarzt Dr. Silas Coade hatte sich seinen Dienst auf dem Segelschiff „Demeter“ anders vorgestellt. Die Expedition, zu der er sich gemeldet hat, soll in die eisigen, kaum kartografierten Regionen des Nordens führen, ein Ort, an dem das Meer gefriert und das Licht sich im Nebel verliert. Das Ziel der Reise ist geheimnisvoll: Ein Bauwerk, das eine frühere Expedition gesichtet, aber nie erreicht hat. Ein Ort, der nur in den Erzählungen der Überlebenden existiert und vielleicht nicht einmal dort. Schon die Anreise ist beschwerlich. Zwischen Sturm, Frost und endlosen Nächten wird Coade zum moralischen Zentrum der Crew: Arzt, Beobachter, Schriftsteller. In seiner Freizeit schreibt er an einem Roman, um Ordnung in die Unruhe seiner Gedanken zu bringen. Doch bald beginnt etwas zu kippen. Als die Mannschaft eine schwarze Passage entdeckt, die sich wie eine dunkle Ader durch das Gebirge zieht, scheint die Realität selbst zu verändern. Coade hört Stimmen, sieht Dinge, die andere nicht wahrnehmen, und gerät zunehmend in Zweifel, was Traum, was Erinnerung und was Gegenwart ist.

Die ersten Kapitel des Romans sind ein bewusst gemächlicher Auftakt. Sie lassen die Zeit des 18. Jahrhunderts aufleben, das Leben an Bord, die Hierarchien, den Aberglauben der Seeleute. Reynolds versteht es, Atmosphäre zu schaffen: Das Knarzen der Planken, der Wind in den Segeln, das dumpfe Pochen der Angst unter Deck. Man lernt Silas Coade kennen, einen gebildeten, sensiblen Mann mit einer inneren Tiefe, die ihn sowohl sympathisch als auch rätselhaft macht. Auch einige Crewmitglieder treten hervor, doch vieles bleibt schemenhaft, als wolle der Autor schon früh andeuten, dass diese Realität nicht von Dauer ist. Lange scheint die Geschichte zu treiben wie das Schiff selbst: ohne klaren Kurs, ohne Ziel. Erst mit der Entdeckung des Wracks der vorangegangenen Expedition entfaltet sich die Spannung. Fragen häufen sich: Was ist geschehen? Gibt es Überlebende? Und welches Geheimnis birgt das spinnenartige Bauwerk, das sie schließlich im Eis entdecken? Wer hat es errichtet, und warum scheint es jede bekannte Logik zu widersprechen?

Reynolds zwingt seine Leser zur Geduld, die Antworten folgen erst spät, im letzten Viertel des Buches. Davor entfaltet sich eine Erzählung, die wie ein Traum in Schleifen verläuft. Nach einem Unfall erwacht Coade auf einem anderen Schiff und die Reise beginnt erneut, mit denselben Figuren und in gleichen Rollen. Realität und Illusion verschmelzen zu einem dichten Gewebe aus Wiederholung, Erinnerung und Ahnung. Was zunächst verwirrt, erweist sich später als kluge, vielschichtige Konstruktion. Der Roman ist mehr als eine Abenteuergeschichte. Er ist ein psychologisches Rätsel, ein Spiel mit Wahrnehmung und Identität. Reynolds führt den Leser in Coade hinein, in sein Bewusstsein, seine Bruchstellen und wiederkehrenden Bilder. Immer wieder schimmert durch, dass die Expedition nicht nur in den Norden, sondern in Coade selbst führt. Die Grenzen zwischen Erleben und Imagination verschwimmen, und je weiter die Reise fortschreitet, desto stärker wird der Verdacht, dass Coade selbst Teil eines größeren Experiments oder Traums ist.

Sprachlich überzeugt Reynolds mit einer Mischung aus klassischem Erzählton und modernem Bewusstsein für Struktur. Seine Beschreibungen sind präzise, manchmal poetisch, manchmal beklemmend. Die Dialoge tragen zum langsamen Aufbau der Atmosphäre bei, auch wenn sie gelegentlich etwas steif wirken. Man merkt dem Buch an, dass es auf mehreren Ebenen funktioniert: als Expeditionserzählung, als Mystery-Geschichte und als Reflexion über Realität und Fiktion. Gerade im letzten Viertel zeigt sich Reynolds’ ganze Meisterschaft. Die Auflösung überrascht mehrfach, ist aber zugleich folgerichtig. Sie fügt die zuvor scheinbar losen Fäden zu einem Ganzen, das emotional wie intellektuell überzeugt. Zwar gibt es Längen im Mittelteil, und manche Passagen wirken überdehnt oder zu vage. Wer jedoch Geduld mitbringt, wird mit einem vielschichtigen, berührenden Finale belohnt, das das zuvor Gelesene in einem völlig neuen Licht erscheinen lässt.

Fazit:
In Träumen verbinden sich Dinge, die in der Wirklichkeit unvereinbar sind und genau dieses Prinzip nutzt Alastair Reynolds in „Das Schiff der flüsternden Träume“, um seine Leser auf eine Reise durch Eis, Zeit und Bewusstsein zu schicken. Der Roman ist zugleich Abenteuergeschichte, psychologische Studie, metaphysische Reflexion und Science Fiction. Er fordert Geduld, belohnt aber mit Tiefe, Atmosphäre und einem Finale, das sowohl berührt als auch überrascht. Die Nebenfiguren bleiben blass, doch das ist bewusst gewählt, denn alles dreht sich um Coade und seine Suche nach Wahrheit in einer Welt, die aus den Fugen geraten ist. Zwar verlieren sich manche Nebenfiguren im Nebel der Handlung, doch das ist verschmerzbar, denn im Mittelpunkt steht Coade und seine innere Odyssee. „Das Schiff der flüsternden Träume“ ist keine leichte Kost, aber für Leserinnen und Leser mit Geduld und Freude an komplexen Erzählstrukturen bietet es ein außergewöhnliches, vielschichtiges Leseerlebnis. Wer durchhält, wird am Ende reich belohnt.

Matthias Göbel

Autor: Alastair Reynolds
Übersetzung:Thomas Salter
Paperback: 368 Seiten
Veröffentlichung: 13.08.2025
Verlag: Heyne Verlag
ISBN: 9783453323803
 

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