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...der Unterschied im Unterschied

Wolfram Weisse - Nepenthes: Auf Erkenntnis folgt Auslöschung (Die Ansgar-Chroniken 3)


einz1975

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Ansgar Weiß erwacht in einem sterilen Forschungslabor. Sein Geist ist schwer, als würde er aus einem tiefen Schlaf gerissen, und die Welt um ihn wirkt wie durch Nebelschwaden verzerrt. Erinnerungsfetzen tauchen auf und verschwinden wieder, und während er verzweifelt versucht, sich an etwas Greifbares zu klammern, bleiben nur Fragmente zurück. Nichts scheint Bestand zu haben. Die Nepenthes Corporation, die für innovative Therapieverfahren bekannt ist, hat eine immersive VR-Methode entwickelt, die besonders traumatisierten Patienten helfen soll, ihre innere Balance wiederzufinden. Doch im Fall von Ansgar gerät das System aus dem Ruder. Statt der vorgesehenen therapeutischen Muster brechen Erinnerungen hervor, die an ein vollständiges, bereits gelebtes Leben erinnern. Dadurch wird Ansgar unfreiwillig zum idealen Kandidaten für streng geheime Quantenexperimente im Auftrag der US-Regierung.

Die behandelnden Ärzte geraten zunehmend in Konflikt mit dem, was Ansgar erzählt. Seine Aussagen wirken nicht nur unglaubwürdig, sondern praktisch unmöglich. Er berichtet von einem Leben auf dem Mars, gemeinsam mit den Hopi, und von einer Quantenanomalie, die ihn dorthin transportiert habe. Auch Ansgar selbst ist hin- und hergerissen zwischen dem Gefühl tiefster Vertrautheit und der Angst, dass sein Geist ihm nur Illusionen zeigt. Wolfram Weisse nutzt diese irritierende Ausgangslage, um den Leser in eine spekulative philosophische Theorie einzuführen. Was wäre, wenn unsere Realität lediglich eine Simulation wäre? Und was wäre, wenn diese Simulation nicht die einzige wäre, sondern Teil eines unendlichen Gefüges, das aus Schichten künstlicher Wirklichkeiten besteht? Die Fragen nach dem Ursprung, dem Zweck und den Architekten solcher Ebenen bleiben bewusst unbeantwortet und bilden ein gedankliches Fundament für den erzählerischen Kern.

Weisse konzentriert sich weniger darauf, diese Theorie bis ins Letzte zu erklären, sondern lenkt den Fokus auf die Zerrissenheit seiner Hauptfigur. Ansgar wird in einen reißenden Strom aus Erinnerungssequenzen geworfen, die einander widersprechen und sich dennoch seltsam echt anfühlen. Für den Leser entsteht ein beklemmender Sog aus wechselnden Orten, Zeiten und Bewusstseinszuständen. Ergänzt wird diese fragmentarische Struktur durch Protokolle, Aufzeichnungen und Berichte aus einer geheimen Regierungsanlage, in der ein extrem leistungsfähiger Quantencomputer steht. Dieser Computer scheint die Grenze zwischen realen und simulierten Ebenen nicht nur zu berechnen, sondern auch zu überschreiten. Dadurch erlebt der Leser durchgängig zwei parallel ablaufende Realitäten, die sich gegenseitig beeinflussen und infrage stellen. Der Roman möchte zeigen, wie Instabilität im Bewusstsein eines Einzelnen zugleich eine Instabilität in der Wirklichkeit selbst auslösen kann. Doch besonders der erste Teil der Handlung kämpft mit ständigen Wiederholungen, gedanklichen Schleifen und einer nahezu überwältigenden Anzahl von Möglichkeiten, die der Text anreißt. Dadurch wird das Vorankommen der Handlung erschwert und manche Entscheidungen Ansgars bleiben nur bedingt nachvollziehbar.

Erst als sich ein Trio aus Ansgar und zwei weiteren entscheidenden Figuren formiert, um die Hintergründe der Regierungsversuche aufzudecken, gewinnt die Erzählung spürbar an Struktur. Zusammen ergeben die drei ein glaubwürdiges Gegengewicht zu der übermächtigen technischen und politischen Instanz, die über ihre Schicksale wacht. Die Simulationshypothese wird schließlich zum erzählerischen Werkzeug, um die verschiedenen Stränge zusammenzuführen. Ansgar erkennt nach und nach, dass Tod und Ende in diesem System keine absolute Bedeutung besitzen. Vielmehr öffnet jeder Übergang in eine neue Ebene eine zusätzliche Wahrscheinlichkeit innerhalb eines Netzes aus Quantenverschränkungen, das nur durch das Bewusstsein selbst überbrückt werden kann. Leben bedeutet in Weisses Weltauffassung nicht Fortbestand im biologischen Sinne, sondern die Fähigkeit, Denken und Identität in unterschiedliche Realitäten zu übertragen.

Fazit:
Wolfram Weisse schickt Ansgar Weiß über drei Bände hinweg auf eine immer intensiver werdende Reise, die nicht nur seine Vergangenheit und Zukunft, sondern auch den Kern seiner Existenz infrage stellt. Seine Erlebnisse reichen weit über gewöhnliche Science-Fiction hinaus, weil sie philosophische, psychologische und metaphysische Fragen miteinander verweben. Der Autor erweist sich als ideenreich und mutig in seiner Themenwahl, doch seine Erzählweise verlangt dem Leser viel Aufmerksamkeit und Durchhaltevermögen ab. Die Komplexität des Textes schlägt im Verlauf gelegentlich in Überfrachtung um, wodurch einzelne Handlungspunkte verwässert wirken. Trotzdem bietet der Roman ambitionierte Konzepte, starke atmosphärische Passagen und den Mut, klassische Grenzen des Genres zu überschreiten. Manche Ereignisse sollen den Figuren zusätzliche Tiefe verleihen, fungieren jedoch eher als erzählerisches Beiwerk. Insgesamt entsteht das Bild eines Romans, der außergewöhnliche Ideen bietet und zum Nachdenken anregt, aber nicht immer die perfekte Balance zwischen Anspruch und Lesbarkeit findet. Wer jedoch Freude an spekulativer Science-Fiction mit hohem philosophischem Anteil hat und sich gern auf komplexe Gedankenspiele einlässt, wird hier reich belohnt.

Matthias Göbel

Autor: Wolfram Weisse
Tschenbuch: 359 Seiten
Veröffentlichung: 19.10.2025
Verlag: Selfpublisher
ISBN: 

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Bearbeitet von einz1975
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