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...die spezielle Spezialeinheit

Kaliane Bradley - Das Ministerium der Zeit


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Empfohlene Beiträge

Der Polarforscher Commander Graham Gore befindet sich im Jahr 1847 mit seiner Mannschaft auf einer wagemutigen Expedition durch das eisige Labyrinth der Arktis. Ziel der Mission ist es, die legendäre Nordwestpassage zu finden. Ein Unterfangen, das zu dieser Zeit ein enormes Risiko darstellt, da diese Region der Erde noch kaum erforscht ist. Die Expedition ist historisch belegt: Gore gehörte tatsächlich zur Mannschaft der berühmten Franklin-Expedition, deren Spuren sich in der Arktis verloren. In dieser fiktiven Erzählung jedoch nimmt Gores Geschichte eine gänzlich andere Wendung: Statt in der Kälte zu sterben, findet er sich urplötzlich im 21. Jahrhundert wieder, einem Zeitalter, das für ihn wie pure Magie erscheinen muss. Erwacht in einer Welt voller Technik, Geschwindigkeit und gesellschaftlicher Umbrüche, begegnet er einer jungen Frau, die erst vor Kurzem eine außergewöhnliche Anstellung angetreten hat: Sie ist Betreuerin für sogenannte „Expats“ – Menschen, die aus vergangenen Jahrhunderten in unsere Zeit geholt wurden. Ihre Aufgabe ist es, diesen zeitverlorenen Persönlichkeiten behutsam den Übergang in die Moderne zu erleichtern, ohne sie zu überfordern oder historische Kontinuitäten zu gefährden. Was als pädagogisches Verhältnis beginnt, entwickelt sich bald zu einer emotionalen Bindung, die beide Protagonisten in unerwarteter Weise verändern wird. Ihre gemeinsame Reise durch diese neue Zeit entfaltet sich in einem zarten, ruhigen Erzählton – zumindest zu Beginn.

Besonders reizvoll ist der Umstand, dass Commander Gore eine tatsächlich existierende Persönlichkeit war, über die historisch nur wenig bekannt ist. Die Autorin nutzt diesen Umstand geschickt: Sie formt aus den spärlich überlieferten Informationen eine literarische Figur, die glaubwürdig, besonnen und mit großer innerer Ruhe auf die neue Realität reagiert. Der Kulturschock, den man bei einem Menschen aus dem 19. Jahrhundert erwarten würde, fällt erstaunlich milde aus. Eine Entscheidung, die man sowohl loben als auch kritisch hinterfragen kann. Zwar sorgt die Faszination Gores für alltägliche Dinge wie Wasserspülung, Toaster, Fernseher oder Kühlschrank für charmante Momente, doch bleibt die emotionale Tiefe seines Staunens oft an der Oberfläche. Auch größere gesellschaftliche und kulturelle Entwicklungen, wie die Weltkriege oder das Internetzeitalter werden nur vage angedeutet, obwohl hier enormes erzählerisches Potenzial vorhanden wäre. Dies hat jedoch einen erzählerischen Grund: Die Betreuerin darf ihm zunächst nur eingeschränkt Auskunft über die historischen Ereignisse zwischen seiner Zeit und der Gegenwart geben. Ein Umstand, der sicher der inneren Logik der Geschichte geschuldet ist, aber den Leser die Gelegenheit nimmt, tiefer in den psychischen Zwiespalt eines Mannes zu blicken, der seine gesamte Realität verloren hat.

Commander Gore ist nicht der Einzige, der aus einer anderen Epoche stammt. Insgesamt fünf Personen wurden durch eine Zeitmaschine in die Gegenwart geholt. Jede von ihnen stammt aus einem anderen Jahrhundert, ihre Herkunft ist historisch dokumentiert, ihr Tod verbürgt – ideale Voraussetzungen, um sie unbemerkt aus der Vergangenheit zu entfernen. Jedem Expat wird eine eigene Bezugsperson zur Seite gestellt. Dadurch entsteht ein faszinierendes Netzwerk aus Menschen, Zeiten und Perspektiven. Leider bleibt auch hier vieles nur angedeutet: Weder die Funktionsweise der Zeitmaschine wird näher erklärt, was Science-Fiction-Fans sicherlich enttäuschen dürfte, noch wird das ethische Dilemma dieser Eingriffe in den natürlichen Lauf der Geschichte ausreichend diskutiert. Warum gerade diese Personen ausgewählt wurden und was der Staat, bzw. das undurchsichtige Ministerium im Hintergrund, mit diesen Experimenten wirklich bezweckt, bleibt viel zu lange unklar.

Die Beziehung zwischen Graham und seiner Betreuerin entwickelt sich langsam, beinahe schüchtern. Doch je weiter der Roman fortschreitet, desto mehr verliert diese anfängliche Zartheit an Tiefe. Was zunächst als behutsame Annäherung zwischen zwei Welten beginnt, wird später eher konventionell erzählt. Ob sich beide wirklich lieben oder ob sie lediglich durch die Umstände, ihre Isolation und die Faszination für das jeweils Andere, zusammengeführt wurden, bleibt letztlich offen. Der Roman deutet viel an, lässt aber emotional nicht alles ausreifen. Positiv hervorzuheben ist der Anspruch der Autorin, gesellschaftlich relevante Themen wie Rassismus, Kolonialismus und Genderfragen in die Handlung zu verweben. Jedoch werden diese Themen eher nur skizziert als wirklich tiefgreifend durchgearbeitet. Dabei hätte gerade Gores Herkunft aus dem britischen Kolonialzeitalter hervorragende Ansatzpunkte geboten, um Fragen länger und tiefer nach Schuld, Privilegien und historischem Bewusstsein aufzuarbeiten.

Im letzten Drittel nimmt der Roman überraschend Fahrt auf. Die zunächst ruhige Stimmung wird von einem Actionelement durchbrochen, das nicht ganz zum vorherigen Erzählstil passt. Eine Verschwörung innerhalb des Ministeriums wird enthüllt, die das Projekt um die Zeitreisen in ein bedrohliches Licht rückt. Diese Wendung soll offenbar Spannung erzeugen, wirkt aber eher bemüht und überfrachtet. Die Dynamik zwischen Graham und seiner Betreuerin tritt dabei zunehmend in den Hintergrund. Die Zeitmaschine, anfangs ein zentrales Element, verkommt zur bloßen Kulisse. Auch das Ende hinterlässt eher Verwirrung als Befriedigung. Verschachtelt, teilweise unlogisch und emotional distanziert. Das kann man als literarische Spiegelung der Komplexität von Zeitreisen verstehen oder als erzählerisches Versäumnis. Ein gelungenes Stilmittel hingegen sind die eingestreuten Tagebuchpassagen von Graham. Diese verleihen der Figur Tiefe und Authentizität, auch wenn sie teilweise zu abrupt in die Haupthandlung eingeführt werden. Sprachlich zeigt sich die Autorin stilsicher. Einige ihrer Metaphern sind treffend und atmosphärisch dicht.

Fazit:
Eine Brücke zwischen den Zeiten... Ein Roman, der mit einer faszinierenden Prämisse beginnt und eine originelle Kombination aus historischer Fiktion und moderner Sci-Fi wagt. Die Idee, einen fast vergessenen Polarforscher aus dem 19. Jahrhundert ins 21. Jahrhundert zu versetzen und ihn dort mit den Errungenschaften und Widersprüchen der Gegenwart zu konfrontieren, trägt großes erzählerisches Potenzial in sich. Gerade die ersten zwei Drittel überzeugen durch ihre ruhige, fast meditative Erzählweise. Die Liebesgeschichte, so zart sie beginnt, bleibt in ihrer Entwicklung jedoch oberflächlich. Die später eingeführte Verschwörung rund um das Ministerium wirkt aufgesetzt und stört die bis dahin stimmig aufgebaute Atmosphäre. Auch dass die technischen und ethischen Dimensionen der Zeitreise kaum thematisiert werden, ist eine verpasste Chance. Letztlich bleibt die Geschichte ein ambitionierter Roman mit starken Momenten, der sich jedoch nicht ganz entscheiden kann, ob er lieber eine tiefgründige Zeitbetrachtung, eine leise Liebesgeschichte oder ein spannender Thriller sein will. So wirkt er am Ende ein wenig wie seine eigene Hauptfigur: aus der Zeit gefallen, mit großem Potenzial, aber auf halbem Weg stehen geblieben.

Matthias Göbel

Autorin: Kaliane Bradley
Übersetzung: Sophie Zeitz
Hardcover: 384 Seiten
Verlag: Penguin Verlag
Veröffentlichung: 23.04.2025
ISBN: ‎9783328603535

 

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