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Ian Beck – Pastworld


einz1975

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Ob Zeitreisen jemals möglich sein werden, darüber streiten sich die Wissenschaftler nach wie vor. Wer dennoch einen Hauch vergangener Zeiten erleben möchte, findet vielleicht in einem Themenpark die passende Alternative. In Ian Becks Roman Pastworld wird genau dieses Konzept Wirklichkeit, zumindest in der fiktiven Zukunft des Jahres 2048. Hier hat man mitten in London eine riesige Kuppel errichtet, unter der das viktorianische Zeitalter bis ins kleinste Detail nachgestellt wird. Besucher, von den Bewohnern als „Gaffer“ bezeichnet, können hier durch nebelverhangene Gassen streifen, Gaslaternen bestaunen, dem Geruch von Maschinenöl nachspüren und auf authentisch gekleidete Darsteller treffen. Doch nicht alle, die in Pastworld leben, sind bloß Schauspieler. Einige Menschen haben sich dauerhaft in dieser simulierten Vergangenheit eingerichtet, nicht offiziell, sondern als illegale Bewohner. Unter ihnen befindet sich auch eine düstere Gestalt, die das Geschehen überschattet: das sogenannte Phantom, eine sagenumwobene Figur, die immer wieder grausame Morde verübt und für Angst und Schrecken sorgt.

So faszinierend die Grundidee auch ist, ein lebendiges viktorianisches London als begehbare Illusion, so skeptisch bleibt man doch, ob eine solche Parkanlage in der Realität jemals existieren könnte. Dennoch begeistert die Vorstellung: Wie die Menschen damals gelebt, sich gekleidet und durch ihren Alltag bewegt haben, ist für viele von uns ein faszinierender Blick in eine andere Welt. Auch ich würde mich wohl zu den neugierigen Gaffern zählen, die durch die Gassen streifen und staunen. Die Geschichte wird durch mehrere Perspektiven getragen. Eine zentrale Figur ist Eve, ein junges Mädchen, das abgeschottet vom Rest der Welt bei ihrem Vater lebt. Er warnt sie eindringlich davor, allein auf die Straßen zu gehen, zu gefährlich sei es dort draußen, denn jemand scheint es gezielt auf sie abgesehen zu haben.

Parallel lernt der Leser das berüchtigte Phantom kennen, das sich unter den Bettlern fast schon den Ruf eines Helden erworben hat, bei allen anderen jedoch pure Angst auslöst. Seine Morde sind brutal: Die Opfer werden mit einem Messer getötet, das Herz wird ihnen herausgeschnitten. Für ein Jugendbuch ist das stellenweise äußerst heftig und wirkte auf mich oft überzogen. Die Gewalt scheint weniger dramaturgisch motiviert, sondern eher der bloßen Schockwirkung geschuldet, eine Entscheidung, die den Ton des Buches unnötig ins Groteske kippen lässt. Eine weitere Perspektive bietet Caleb, ein Jugendlicher aus der Außenwelt, der als Tourist nach Pastworld kommt und schnell erkennen muss, dass dieser Ort weit mehr ist als bloßes Theater. Er wird, wie auch der Leser, in eine undurchsichtige Geschichte gezogen, in der Wahrheit und Inszenierung zunehmend verschwimmen.

Trotz der interessanten Ausgangslage und dem atmosphärischen Setting gelingt es dem Autor leider nicht, eine echte emotionale Bindung zwischen Leser und Figuren aufzubauen. Viele Charaktere wirken blass und scheinen eher durch die Handlung zu stolpern als aktiv daran teilzunehmen. Auch ein ermittelnder Polizist bleibt farblos, seine Erkenntnisse scheinen mehr Glückssache als Ergebnis intelligenter Ermittlungsarbeit zu sein. Das große Finale kommt wenig überraschend, und obwohl die Verbindung zwischen Eve und dem Phantom erzählerisch durchaus einen gewissen Reiz besitzt, wirkt die Auflösung letztlich eher konstruiert als schlüssig. Und doch: Ian Beck versteht es stellenweise sehr gut, die düstere, geheimnisvolle Atmosphäre des alten Londons heraufzubeschwören. Der Leser wandelt durch enge Gassen, riecht förmlich den Ruß in der Luft und schreckt vor fauchenden Roboterratten zurück, die zwischen den Pflastersteinen huschen. In diesen Momenten wird Pastworld lebendig und man wünscht sich, der Autor hätte noch mehr Wert auf diese Feinheiten und weniger auf plumpe Effekthascherei gelegt.

Fazit:
Ein Ausflug in eine finstere Vergangenheit voller Dampf, Nebel und Mysterien. Pastworld lebt vor allem von seiner faszinierenden Grundidee: eine vergangene Epoche mit modernster Technik wiederauferstehen zu lassen und erlebbar zu machen. Die Vorstellung, als Besucher durch das viktorianische London zu wandeln, hat ihren Reiz, Nebel, Armut, Krankheit und Tod inklusive. Leider gelingt es dem Autor nicht, die Figuren glaubhaft und tiefgründig zu zeichnen. Sie bleiben größtenteils schemenhaft und wecken kaum Empathie. Die brutalen Mordszenen wirken deplatziert und hätten in ihrer Ausführlichkeit nicht sein müssen. Was bleibt, ist ein faszinierender Schauplatz mit großem Potenzial, das nur teilweise ausgeschöpft wird. Ein Buch, das atmosphärisch überzeugt, aber erzählerisch hinter seinen Möglichkeiten zurückbleibt.

Matthias Göbel

Autor: Ian Beck
Übersetzung: Barbara Abedi
Taschenbuch: 400 Seiten
Veröffentlichung: 01.06.2010
Verlag: Loewe Verlag
ISBN: 9783785571569

 

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