Zum Inhalt springen
...mit Sicherheit ein gutes Gefühl!

Steven Lee Anderson – Juno: Aufbruch in eine neue Welt (Die Juno-Trilogie 1)


einz1975

Empfohlene Beiträge

Mit der Arcadia, einem gigantischen Kolonisierungsschiff von nie dagewesenem Ausmaß, steht die Menschheit am Scheideweg. Das Projekt gilt als der letzte große Hoffnungsschimmer einer Welt, die sich selbst zugrunde richtet. Mehr als 300.000 Menschen, sorgfältig ausgewählt oder mit Glück für würdig befunden, sollen an Bord zu einer neuen Heimat aufbrechen: dem weit entfernten Planeten Juno. Hier, so der Traum, soll ein neuer Anfang möglich sein, fernab der Fehler, die die Erde ins Chaos gestürzt haben. Noch bevor die Arcadia ihren Weg durch die Sterne aufnimmt, lenkt Anderson den Blick seines Publikums zurück auf die zerfallende Erde. Seine Geschichte entfaltet sich in einem Mosaik unterschiedlicher Perspektiven, die gemeinsam ein erschreckend realistisches Bild einer Welt ergeben, in der Ressourcen schwinden, Militärregime entstehen und ganze Regionen im Klimawandel untergehen. Der Autor setzt dabei stark auf Figurenvielfalt, um die gesellschaftlichen Bruchlinien abzubilden. Jede einzelne dieser Personen verkörpert einen anderen Aspekt der globalen Krise und einen anderen möglichen Zugang zur Hoffnung.

Liu, die jüngste unter den zentralen Charakteren, wächst in den Schatten einer chinesischen Megastadt auf. Der Alltag ist geprägt von Gewalt, Ausbeutung und dem Gefühl völliger Chancenlosigkeit. Anderson schildert Lius Lebenswelt mit bedrückender Intensität: In den engen Gassen stapeln sich Armut und Elend, während über den Köpfen der Menschen eine korrupte Elite in gläsernen Türmen residiert. Liu wird so zum Sinnbild einer Generation, die umgeben von Schmutz und sozialer Ungerechtigkeit nie gelernt hat, an eine Zukunft zu glauben und doch unverhofft Teil einer Vision wird, die größer ist als alles, was sie sich vorstellen kann. Enyo, ein müder Frachterpilot, verkörpert einen anderen Typus der Verlorenen. Er lebt zwischen Raumhäfen und dunklen Hinterzimmern, gefangen in einem Netz aus Schulden, das ihn direkt in die Fänge der russischen Mafiaorganisation führen könnte, der er Geld schuldet. Er nimmt jeden Auftrag an egal wie gefährlich, nur um einen Rest seiner Freiheit zu bewahren. Seine Flucht nach vorn, sein verzweifeltes Ringen um Selbstbestimmung, macht ihn zu einer weiteren tragischen Figur.

Nisha hingegen steht für Hoffnung durch Stärke. Als talentierte Kampfpilotin hat sie mehr als einmal bewiesen, dass sie fähig ist, nicht nur für sich, sondern auch für andere einzustehen. Ihre Kämpfe gegen chinesische Aggressoren zeigen eine Welt, in der lokale Konflikte längst globale Kriege hervorgebracht haben. Nisha ist diszipliniert, loyal und bereit zu opfern, doch hinter dieser Stärke verbirgt sich eine Einsamkeit, die Anderson sensibel herausarbeitet. Hago, ein idealistischer Arzt, kämpft abseits der großen politischen Bühne für Menschlichkeit. In seinem kleinen Hospital versucht er, eine medizinische Versorgung aufrechtzuerhalten, obwohl die WHO längst abgezogen ist und bewaffnete Gruppen die Gegend kontrollieren. Seine Passagen gehören zu den emotional stärksten des Romans: Er ist jemand, der trotz Aussichtslosigkeit nicht aufgibt, der heilt, auch wenn niemand mehr daran glaubt.

Neben den vier zentralen Figuren lässt Anderson zahlreiche weitere Charaktere auftreten, darunter die Ingenieurinnen und Wissenschaftler, die an der Arcadia arbeiten, mehrere hochentwickelte KIs sowie skrupellose Kriminelle. Einige dieser Nebenfiguren sind nur kurze Schlaglichter, andere erhalten eigene Kapitel. Das kann den Einstieg anspruchsvoll machen, denn die Vielzahl an Handlungsorten, sozialen Schichten und kulturellen Hintergründen wirkt zunächst überwältigend. Dennoch trägt diese Vielfalt dazu bei, die Welt greifbar und lebendig zu machen: ein chaotisches, zersplittertes System, aus dem nur ein radikaler Neuanfang herausführen könnte. Der Roman ist durchzogen von einem beständigen Grundton an Düsterkeit. Die Welt steht kurz vor dem Kollaps, nicht nur ökologisch, sondern auch sozial und politisch. Anderson zeigt, wie der Klimawandel Küstenregionen hinwegspült, wie Städte zu überfüllten, gefährlichen Labyrinthen werden und wie der Kampf um Ressourcen brutal und gnadenlos geführt wird. In dieser trostlosen Umgebung wirkt die Arcadia wie ein letztes Feuer der Hoffnung. Doch Anderson stellt immer wieder die Frage: Kann eine Menschheit, die ihren Heimatplaneten zerstört hat, auf einem neuen wirklich besser handeln?

Die Arcadia ist nicht nur ein Schiff, sie ist ein Symbol. Für Hoffnung, für Flucht, für einen Neuanfang und für die wiederkehrende Frage, ob Menschen überhaupt in der Lage sind, aus Fehlern zu lernen. Trotz seiner vielen Stärken weist der Roman einige Schwachstellen auf. Technikliebhaber etwa werden sich möglicherweise detailliertere Beschreibungen zukünftiger Technologien wünschen. Oft wirken Geräte und Systeme erstaunlich vertraut, fast so, als wären sie zeitgenössisch, was die Glaubwürdigkeit einer weit entfernten Zukunft etwas schmälert. Auch die gelegentlichen erotischen Szenen erscheinen unnötig explizit und wirken teilweise fehl am Platz im ansonsten ernsten, düsteren Ton des Romans. Einige Figuren bleiben darüber hinaus trotz ihres Potentials blass oder folgen allzu eindimensionalen Handlungsmustern. Insbesondere manche Gegenspieler fallen nur durch ihre grobe und sture Brutalität auf. Sprachlich bleibt Anderson durchweg zugänglich und flüssig. Die Kapitel sind dynamisch, oft kurz und rhythmisch aufgebaut, sodass der Roman trotz seiner Komplexität schnell zu lesen ist. Die klar voneinander getrennten Handlungsstränge wachsen im Verlauf organisch zusammen, und gerade zum Ende hin gewinnt die Erzählung an Intensität und Fokus.

Fazit:
Ein gewagter Blick in die Zukunft voller Angst und Hoffnung. Wenn wir neu beginnen könnten, würden wir wirklich anders handeln? Juno: Aufbruch in eine neue Welt bietet keine einfachen Antworten. Der Roman zeigt die Menschheit in ihrer Fähigkeit zu zerstören, aber auch in ihrer Fähigkeit zu hoffen, zu kämpfen und neu zu beginnen. Trotz einiger Schwächen in Figurenzeichnung und tonal schwierigen Szenen bleibt die Geschichte packend und ideenreich. Die Vision einer sterbenden Erde und eines verzweifelten Neuanfangs ist eindringlich. Die Mischung aus globaler Apokalypse, intimen Einblicken in Einzelschicksale und dem Traum eines interstellaren Aufbruchs verleiht dem Buch ein gutes erzählerisches Fundament. Der Wille, dem Leser eine Zukunft zu zeigen, wenn auch keine strahlende, macht den Roman zu einem Werk, das im Gedächtnis bleibt.

Matthias Göbel

Autor: Steven Lee Anderson
Taschenbuch: 450 Seiten
Verlag: Selfpublisher
Veröffentlichung: 13.07.2021
ISBN: 9798532839021

www.steven-lee-anderson.de

 

71XMnAp2+4L._SL1500_.jpg

Bearbeitet von einz1975
Link zu diesem Kommentar
Auf anderen Seiten teilen

Bitte melde Dich an, um einen Kommentar zu hinterlassen

Du kannst nach der Anmeldung einen Kommentar hinterlassen



Jetzt anmelden
  • Bilder

×
×
  • Neu erstellen...

Wichtige Information

Diese Seite verwendet Cookies um Funktionalität zu bieten und um generell zu funktionieren. Wir haben Cookies auf Deinem Gerät platziert. Das hilft uns diese Webseite zu verbessern. Du kannst die Cookie-Einstellungen anpassen, andernfalls gehen wir davon aus, dass Du damit einverstanden bist, weiterzumachen. Datenschutzerklärung Beim Abensden von Formularen für Kontakt, Kommentare, Beiträge usw. werden die Daten dem Zweck des Formulars nach erhoben und verarbeitet.